Das Leben trägt Vintage

Wir denken an Morgen.
Wir leben im Heute.
Wir erinnern uns an Gestern.
Das Leben trägt Vintage in vielerlei Hinsicht. So erleben wir es auf unterschiedlichste Art und Weise.
Wir tragen fremde Kleider, vielleicht weil wir für den Moment lang jemand anderes sein können. Tauchen ein in die Persönlichkeit eines uns unbekannten Menschen und fühlen uns, als können wir deren Leben mit nur einem einzigen Kleidungsstück weiterleben.
Wir leben frei nach dem Motto „Aus alt mach neu“, denn so erfahren wir es doch das ein oder andere Mal immer häufiger, dass unsere geliebte Mode niemals ausstirbt und die Klassiker uns nach wie vor einzuholen scheinen.
So verstaubten Muttis Schuhe nicht umsonst Jahre lang im Keller, sondern sind im Hier und Jetzt der Gipfelstürmer des Plateau Absatzes. Die Blusen betonen nicht nur ihre Wiederkehr, sondern ebenso die Schultern jener Frau, die etwas von Mode zu verstehen vorgibt. Abba tanzt nun auch in unseren Kleiderschränken, und für diejenigen unter uns, die sich am Hals noch nicht bereit sind zu tätowieren, eignen sich entsprechende Halsbänder aus Plastik, das wir früher schon als Mädchen trugen.
Dabei sind es sind nicht nur Gegenstände, Mode oder Fotos, die uns ein vergangenes Leben vor Auge führen. Dinge, die wir sehen können.
Es sind sogar vielmehr die Momente, die wir mit bloßem Auge nicht wahrnehmen, die Situationen, die wir uns verinnerlichen, wenn wir unsere Augen schließen.
Vielmehr noch sind es die Erinnerungen, die mit all diesen Dingen einhergehen. Erinnerungen, die wir mit jedem Sinn wahrnehmen, als wäre es gestern gewesen.
Warum also lieben wir es so, die Vergangenheit aufrecht zu erhalten?
Warum lieben wir Vintage? – Das „Alte“ oder das „Antike“?
Warum sehnen wir uns manchmal nach einer Zeit, die schon lange stillsteht?
Wir leben in einer Welt, in der unsere Zeit in Höchstgeschwindigkeit an uns vorbeizuziehen scheint, in der wir immer das Beste brauchen, immer schnell sein müssen. Das Leben ist
schnelllebig und alles, das neu ist, ist genauso schnell veraltet.
So finden wir uns manchmal wieder in der Sehnsucht nach der alten Zeit. Nach der verbrauchten
Zeit. Vergangenen Tagen. Vergangenheit.
Nichts erhält seinen eigentlichen Wert.
Und so beginnen wir uns nach etwas zu sehnen, dessen Wert mit dem Alter steigt. Die Zeit.
Und dann passiert es mit einem Mal, dass wir uns wiederfinden auf einem Flohmarkt unserer Gedanken. Wir schlendern an einem bunten Herbsttag, der mit seinem blassblauen kühlen Himmel auf uns hinabsieht, zwischen etlichen Verkäufern und deren anpreisenden Antik Tischen mit gedeckten Antiquitäten und Ramsch, getragenen Kleidern, alten Bildern und Fotos vorbei.
Wir nehmen den Geruch von Staub und altem Leder wahr.
Wir sehen mit unseren Augen längst verblasste Gesichter derer Menschen, die uns auf ihren
Bildern eines schwarz-weißen Lebens entgegen lächeln. Wir fühlen mit unseren Händen getragene Kleider und lauschen dem Treiben der Masse, der Musik der Vergangenheit, die aus einem knatternden Plattenspieler mit ihrem Rhythmus zum Tanzen beflügelt.
Und plötzlich springt uns, wie aus einem Nebelschwarm verschwommen, und nur in seiner Silhouette erkennbar, ein winzig kleiner Funken am Horizont unserer Gedanken in unseren Kopf.
Eine Erinnerung, die uns kurzum einmal in der Zeit reisen lässt.
Denn wer kennt es nicht, wenn ein ganz bestimmter Duft unseren Verstand entführt.
Wenn das Lied im Radio unser Herz tanzen lässt.
Wenn wir etwas schmecken, das uns ein kulinarisches Feuerwerk in unser Gedächtnis zaubert.
Und während wir mit geschlossenen Augen den leisen Tönen unseres Verstandes horchen, sehen wir uns plötzlich selbst vor uns stehen. Wir sehen uns, wie wir einige Jahre zuvor im Regen getanzt haben, wie wir schwerelos durchs Leben flogen, wie wir lachten, wie wir durch die Luft wirbelten, wie wir Kind waren.
Wie Menschen, deren Lebensuhr jetzt bereits stillsteht, vor uns stehen und uns anlächeln. Und es ist für einen kurzen Moment, als wären wir wieder genau dort. An einem Ort, der die Musik unseres Herzens spielt, der den Duft der Zeit mit sich trägt, der nach der Süße des Lebens schmeckt und der sich real anfühlt. Der zum Greifen nah ist.
Als hätten wir die Zeit zurückgespult und sie gleichzeitig angehalten. Als wäre sie niemals weitergelaufen.
Wir tragen Vintage.
Weil es für uns eine kleine Zeitreise in unser Leben darstellt und wir für einen kurzen Moment ausbrechen können aus dem Käfig der Gegenwart und dem Dompteur der Zukunft. Weil uns bei all der Vergänglichkeit eines immer bleiben wird: Die Erinnerung.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.