Alles auf Anfang

Wie gehen wir mit tragischen Ereignissen um? Lassen wir uns von ihnen vereinnahmen, versinken wir in Trauer oder schaffen wir es, darüber hinwegzugehen, ob durch Verdrängung oder Verarbeitung des Erlebten?

Das Zauberwort ist Resilienz, Widerstandskraft. Welch großes Glück, die meisten von uns haben, die sich die Frage nach ihrer Widerstandsfähigkeit noch nicht stellen mussten, merken wir jetzt, wenn die Gewalt immer näherkommt und wir das Gefühlt haben, dass die Welt aus den Fugen gerät. Viele der Menschen, die jetzt in Europa Schutz suchen, mussten Gewalt und Grausamkeiten überstehen, und lernen, wieder von vorne anzufangen. Dies ist die Geschichte der Begegnung mit einem von ihnen.

Frühjahrsputz mit Flüchtlingen

Es ist zwei Uhr mittags an diesem leuchtenden Frühsommertag. Die Sonne brennt, und die Kinder und Erzieherinnen, die an der Ecke des Kindergartens stehen, tragen in einem klapprigen Bollerwagen nicht nur Gummihandschuhe, Eimer und Greifer mit sich, sondern auch einen Haufen Wasserflaschen.

Auf der anderen Seite der Straße sammeln sich gerade ein paar Jugendliche unter dem strengen Blick einer älteren blonden Lehrerin. Sie sind Schüler der benachbarten Berufsschule und sollen gemeinsam mit den Kindergartenkindern die Grünstreifen zu beiden Seiten der Straße von Müll befreien. Verursacht haben diesen die Berufsschüler. Leere Flaschen, Zigarettenkippen und bunte Plastikverpackungen, Überreste der langen Mittagspausen, haben sich im Gebüsch und dem Unkraut am Zaun des Kindergartens verfangen. Die Hoffnung von ErzieherInnen und LehrerInnen ist es, dass sich die Schüler und Schülerinnen durch die Reinigungsaktion stärker in die Lage der Kinder versetzen können und in Zukunft weniger Müll produzieren werden.

Es ist eine kleine Gruppe von Jugendlichen, vier Jungs und ein Mädchen, alle um die 17 Jahre, vielleicht 18 Jahre alt. Sie sind erst erstaunlich schweigsam, arbeiten dafür sehr fleißig und nehmen Rücksicht auf die Kinder. Erst nach einer Weile stellt sich heraus, dass die Lehrerin die Leiterin der neu geschaffenen Abteilung der Berufsschule ist, die in zwei Flüchtlingsklassen minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen die Möglichkeit bietet, in Deutschland eine Ausbildung zu absolvieren. Eigentlich sollen die Jugendlichen dafür zuvor schon in mehreren Kursen Deutschunterricht bis Stufe B1, besser noch B2 genossen haben, im Moment laufen die Kurse aber oft parallel.

Mit zweien der Jungs, die vor kurzem erst aus Syrien flüchteten, ist daher kaum Kommunikation möglich, das Mädchen, ebenfalls aus Syrien, spricht schon ein wenig Deutsch, ist aber sehr schüchtern. Dagegen sind Fouad und Amir, deren Namen eigentlich ganz anders lauten, bald aufgetaut und alles andere als leise! Sie spaßen mit den Kindern, kümmern sich um sie und binden sie in die Reinigung der Rabatten ein. Sie schaffen es, dass die Kinder Spaß haben und vergessen, dass es eigentlich viel zu heiß ist für körperliche Arbeit.

Dabei sind die anderen Berufsschüler nicht sonderlich hilfreich. Sie zertreten ihre Zigarettenkippen vor der Nase des kleinen Reinigungstrupps, werfen zerknitterte Tüten und leere Flaschen demonstrativ in die Büsche. Sie kichern und tuscheln, offenbar haben die jungen Flüchtlinge einen schweren Stand. Als die Lehrerin sich einmischt, hört das Getuschel kurzzeitig auf. Erstaunlich ist nur: Fouad und Amir bleiben vom Verhalten der Schüler unbeeindruckt. Sie sind ruhig und gelassen und lenken die Kinder mit kleinen Spielen ab – wer kann schneller einen Kronkorken aus dem Gebüsch ziehen, wer hat den nächsten Meter schneller sauber.

Alles in allem ist die Aktion ein Tropfen auf den heißen Stein. Fünfzehn Kinder, fünf Schüler und eine Handvoll Erwachsene schaffen es nicht, bei dreißig Grad im Schatten viel auszurichten. Die Büsche sind immer noch sichtbar voll von Tütenfetzen, die Zigarettenkippen müsste man mit Besen oder Rechen einsammeln, die bloßen Hände sind viel zu langsam. Für die meisten BerufsschülerInnen ist die Aktion nicht vorhanden, sie werden in Zukunft kaum weniger Müll in der Umwelt entsorgen. Warum also das Ganze?

Erfrischende Gespräche

Die Aktion dauert insgesamt vielleicht eine Dreiviertelstunde, danach werden alle Beteiligten zu einer kleinen Erfrischung eingeladen. Es gibt Getränke und Kuchen in der Cafeteria des Kindergartens, und jetzt zeigt sich der Sinn: man kommt ins Gespräch. Die Lehrerin und die Leiterin des Kindergartens sind dabei, die Berufsschüler und die beteiligten Eltern. Die Kinder schnappen sich nur kurz ein Glas Wasser und ein Stück Kuchen, schon sind sie draußen, bei einem improvisierten Fußballspiel mit einem weiteren Lehrer der Berufsschule. Die Gelegenheit, mit den jungen Flüchtlingen zu sprechen, lässt sich kaum einer entgehen, die Fragen kommen von allen Seiten.

Selbst das Mädchen, das seinen Namen nicht nennt, erzählt ein wenig. Langsam und vorsichtig setzt sie die ungewohnten deutschen Worte aneinander, erzählt von ihrer Mutter und ihren Geschwistern, von denen sie auf der Flucht getrennt wurde. Alle atmen auf, als sie berichtet, dass sie rechtzeitig das Land verließen, sie haben alle überlebt und es nach Deutschland geschafft. Nur die Familienzusammenführung lässt durch die Bürokratie auf sich warten. Sie ist noch sehr jung, gerade siebzehn, und auf die Frage nach ihren Plänen für die Zukunft kann sie nur mit dem Wunsch antworten, ihre Eltern wiederzusehen.

Was birgt die Zukunft?

In der Zwischenzeit hat sich Amir, der aus Afghanistan stammt, mit der Kindergartenleiterin zusammengesetzt. Es herrscht extremer Mangel an Erziehern, und er scheint sich für den Beruf zu interessieren. Die Leiterin ist erstaunt, es kommt eher selten vor, dass sich männliche Jugendliche als Erzieher sehen. Amir gibt nicht auf, nach und nach quetscht er alle organisatorischen Details aus ihr heraus, und steht kurz davor, einen Termin für ein Praktikumsvorgespräch zu machen. Er spricht fließend Deutsch, wenn auch mit Akzent, die Sprache ist kein Hindernis. Aber die Frage bleibt im Raum: warum interessiert sich, gegen alle Klischees, ein männlicher Jugendlicher aus dem muslimischen Raum für eine Zukunft als Erzieher, besonders, wie er betont, im Krippen- und Kleinkinderbereich?

Fouad ist mittlerweile vom Fußballspiel zurückgekehrt, um schnell etwas zu trinken. Er ist verschwitzt, aber glücklich, im Schlepptau zwei Vierjährige, die ihn anhimmeln. Im Gegensatz zu Amir ist er laut und fröhlich, auf alle Fragen antwortet er mit Zukunftsplänen. Die meisten sind geradezu schockiert über sein perfektes Deutsch. Er ist aus Westafrika, wenn er auch nicht genau sagt, woher. Sein Deutsch, mit einem ganz leichten französischen Akzent, ist besser als bei vielen, die hier geboren wurden. Seit etwas mehr als einem Jahr in Deutschland, hat er die Zukunft bereits verplant: eine Lehre im technischen Bereich, Abitur nachholen, Ingenieursstudium der Elektrotechnik, oder vielleicht doch Youtube-Star? Er sprudelt und strahlt und fühlt alle Augen auf sich. Für ihn spielt die Vergangenheit keine Rolle mehr, er sieht nur nach vorne.

Der Schock

Jetzt traut sich eine der anwesenden Mütter doch Amir zu fragen, warum er Erzieher werden will. „Ich habe eine Tochter“ sagt er. „Sie ist bald ein Jahr alt.“ In das allgemeine Erstaunen hinein zeigt er auf seinem Handy ein Foto herum: ein wirklich niedliches Baby mit riesigen braunen Augen und einem breiten Lächeln. „Sie ist so schön wie meine Freundin. Nächstes Jahr, wenn wir können, wollen wir heiraten.“ Amir sieht noch jünger aus als das syrische Mädchen, aber tatsächlich ist er schon neunzehn, wie er erklärt. Die Aufmerksamkeit am Tisch konzentriert sich jetzt auf ihn, alle bewundern seine positive Einstellung, wie zuvor bei Fouad. Dann fragt eine etwas ältere Mutter: „Und deine Familie, was hält die davon, dass du Erzieher werden willst?“

Amir wird ganz blass. Er hat sich von einem Moment auf den anderen völlig verändert, ist ganz verschlossen und still. Als wäre die Welt eingestürzt. Er sitzt verkrampft auf dem viel zu kleinen Kindergartenstuhl, die Schultern zusammengesunken, den Kopf gesenkt und haucht kaum hörbar: „Ich habe keine Familie mehr.“ Um ihn herum wird es völlig still, selbst Fouad hört auf zu reden. Nur die Mutter, die zuvor gefragt hatte, hat es wohl noch nicht bemerkt und bohrt nach: „Wie, keine Familie?“ Amir holt ganz tief Luft und spuckt aus: „Sie sind alle …“ Aber er kann es dann doch nicht aussprechen. „… weg.“
Niemand hat eine Antwort, alle sitzen auf ihren Stühlen und schweigen. Sie stellten alle Fragen, aber immer in der Hoffnung, dass sie nicht beantwortet werden, nicht so. Nach der Erzählung des Mädchens waren alle erleichtert davon ausgegangen, dass alles gut ist, gut wird, dass das Grauen doch weit von uns fort ist. Dann sitzt dieser gedrungene Junge vor ihnen, viel jünger aussehend als seine 19 Jahre, und hat nichts und niemanden mehr, außer seiner Tochter und seiner Freundin.

Fouad löst die Spannung gerade rechtzeitig, bevor noch mehr Bilder im Kopf entstehen könnten. Er steht auf und ruft die Kinder nach draußen, und wie auf ein Kommando verschwinden auch die meisten Erwachsenen. Die Stille war allen unangenehm. Amir hat in seiner Hand immer noch das Handy, er ist nur ein Bild weitergegangen. Man sieht seine Freundin, eine hübsche, zierliche Brünette, mit dem Baby auf dem Arm. Er blickt auf, und sagt zu niemand Besonderem: „Aber ich habe jetzt eine neue Familie.“

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