Kocht Erdogan beim Verfassungsreferendum eine bunte Suppe

Worum geht es beim Verfassungsreferendum in der Türkei?

Verfassungstheorie ist nicht so jedermanns Ding. Deshalb fasst Euch Doodad hier kurz und bildhaft zusammen, um was es beim Verfassungsreferendum in der Türkei geht. Anders ausgedrückt: Was für ein Süppchen kocht Erdogan?

Heute endet das Verfassungsreferendum in der Türkei, bei welchem es darum geht, ob aus der Parlamentarischen Demokratie eine Präsidialdemokratie werden soll. Schon dieser erste Satz enthält drei sperrige Worte. Und selbst, falls man bei jedem dieser Begriffe sofort und genau versteht, worum es sich handelt, stellt sich die Frage, warum da eigentlich so ein Riesenproblem daraus gemacht wird.

Den meisten Türken, die bis heute abstimmen dürfen, geht es genauso: Sie haben keine Ahnung, worum es eigentlich geht, wie Gerrit Wustmann für Heise berichet. Das hängt damit zusammen, dass Verfassungstheorie nicht so jedermanns Ding ist, weshalb hier in Deutschland nicht ausführlich darüber berichtet wird – und in der Türkei bestenfalls undifferenziert.

Warum ist ein Verfassungsreferendum wichtig?

Um herauszufinden, worüber eigentlich bei dem laufenden Verfassungsreferendum in der Türkei entschieden wird, muss man sich sicherlich erst einmal kurz mit der Frage beschäftigen, wofür eine Verfassung überhaupt gut ist.

Wie immer, wenn es um Politik geht, ist dies eine Frage der Macht. Max Weber hat Macht als die Fähigkeit definiert, andere Menschen gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen. Staaten, in welchen die Macht in den Händen Einzelner liegt, benötigen im Prinzip keine Verfassung. Das gilt für reine Monarchien genauso wie für Diktaturen, denn in diesen herrschen Einzelne unbeschränkt. Verfassungen sind immer dann notwendig, wenn die Macht der Machthaber beschränkt werden soll, wenn also:

  • Rechte oder
  • Freiheiten der Bevölkerung vor den Machthabern geschützt werden sollen,
  • und die Macht limitiert und
  • deren Gebrauch kontrolliert werden soll.

Manche Monarchien und Diktaturen nutzen Verfassungen auch, um zu verschleiern, dass in ihnen die Macht weder beschränkt noch kontrolliert werden kann.

Demokratien benötigen Verfassungen, weil die Beschränkung der Macht Einzelner eines ihrer wichtigsten Anliegen ist. In diesen Verfassungen geht es in erster Linie darum, zu definieren, wer genaue welche Macht ausüben darf und wie diese Macht durch Teilung und Gegengewichte beschränkt werden soll. Diesen Zwecken dient die viel zitierte Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative sowie das Prinzip der – in den USA zuerst so genannten – Checks and Balances.

Warum finden manche Checks and Balances nicht so wichtig?

Die Checks and Balances sind ein Mittel, durch welches immer jemand da ist, welcher den Mächtigen auf die Finger sieht – und drauf haut, wenn sie ihre Machtgrenzen überschreiten. Zusammen mit dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung führen sie auch dazu, dass in Demokratien

  • einerseits nur mehrheitsfähige Entscheidungen und
  • andererseits meist durch Kompromisse mehrheitsfähig gemachte Entscheidungen

getroffen werden. Daher das scheinbar fruchtlose Gezerre zwischen den Parteien. Daher die scheinbare Stagnation. Daher die Politikmüdigkeit. Man könnte sagen:

Viele Köche verderben die Suppe.

Daher die Sehnsucht nach dem starken Mann. Die Sehnsucht nach einem Trump oder Erdogan, welcher die Dinge endlich in Bewegung setzt. Wer das Gefühl hat, dass alles schlecht ist und schlecht bleibt, wer das Gefühl hat, dass endlich mal durchgegriffen werden muss, wer das Gefühl hat, dass seine politischen Interessen nicht berücksichtig werden, der wünscht sich genau so jemanden.

Das erste Problem dabei ist, dass so ein starker Mann nur dann gut wäre, wenn er auch gute Entscheidungen träfe – wenn er ein Philosophenkönig im Sinne Platons wäre. Das zweite Problem besteht darin, dass Menschen, die sich einen starken Führer wünschen, im Hinterkopf die Erwartung haben, dass der auch genau die von ihnen gewünschten Entscheidungen trifft. Machte er das nicht, bliebe ja alles weiterhin schlecht und sie müssten weiterhin das Gefühl haben, dass ihre politischen Interessen nicht berücksichtigt werden.

Schlecht, wenn der einzige Koch nicht nach Deinem Geschmack kocht.

Nur das Prinzip der Mehrheitsfindung über Kompromisse kann gewährleisten, dass politische Entscheidungen nicht einseitig Minderheiten benachteiligen, dass am Geschmack mancher nicht dauerhaft vorbei gekocht wird.

Worum geht es bei diesem Verfassungsreferendum?

Bleiben wir also dabei: Wenn eine Verfassung regelt, wie Macht geteilt wird und wer was wie zu sagen hat, legt sie gewissermaßen fest, wie die Küche organisiert werden soll, in welcher ein Staat sein Süppchen kocht. In der Parlamentarischen Demokratie steht das Parlament als oberster Vertreter das Volkes im Zentrum der Macht, trägt die Regierung und gewährleistet deren Verantwortlichkeit. Merkel ist bei uns als Kanzlerin die vom Bundestag gewählte Regierungschefin. Bundespräsident und damit Staatsoberhaupt ist Frank-Walter Steinmeier.

In der Präsidialdemokratie kulminiert die Macht des Volkes im Präsidenten. Zwar gibt es auch hier ein Parlament, jedoch ist der Präsident diesem gegenüber nicht zur Rechenschaft verpflichtet – sondern nur gegenüber dem Volk selbst. Hier ist der Präsident Staatsoberhaupt und Regierungspräsident zugleich.

Welche dieser Möglichkeiten eine Demokratie wählt, ist prinzipiell nicht wichtig. Aber nur, solange die Gewaltenteilung und die Checks and Balances in Takt sind.

Vordergründig geht es bei dem Verfassungsreferendum in der Türkei, das heute endet, darum, aus einer parlamentarischen eine präsidiale Demokratie zu machen. Ob man dazu Evet (türk. Ja) oder Hayır (türk. Nein) sagen möchte, ist Meinungssache.

Hintergründig und wesentlich entscheidender geht es bei diesem Verfassungsreferendum darum, die Machtbeschränkungen und die Checks und Balances für den Präsidenten einzuschränken. Wer es schätzt, eine Meinung haben zu dürfen, darf dazu auf keinen Fall Evet sagen.

Wie genau zersetzt dieses Verfassungsreferendum die Demokratie?

Schon heute wird die Türkei vom amerikanischen Economist in ihrem Democracy Index als nur mehr “hybrides Regime”, nicht als Demokratie, bezeichnet. Und nach Erdogans Willen soll seine Macht noch größer und deren Kontrolle noch geringer werden.

Seine Macht wird vergrößert, indem das Amt des Ministerpräsidenten, welches derzeit Binali Yıldırım inne hat, mit dem Präsidentenamt Erdogans zusammengeführt wird. Der Präsident soll damit auch Regierungschef werden.

Die Checks and Balances werden zugleich aufgeweicht, indem sowohl das Amt des Regierungschefs als auch seiner im Ministerrad zusammengefassten Minister der Kontrolle des Parlamentes entzogen wird. Weil der Präsident vom Volk direkt gewählt ist, entfällt für das Parlament auch die Möglichkeit, dem Regierungschef das Vertrauen zu entziehen. Ein Amtsenthebungsverfahren – wie es in den USA existiert – gibt es nicht. So etwas ist aber auch gar nicht gewünscht: Es wird dem Präsidenten sogar möglich sein, seine Akten vor dem Einblick des Parlamentes zu schützen.

Sollte sich der Präsident also gegen das Volk stellen, ist ihm mit legalen Mitteln nicht beizukommen. Obwohl ein derartig aufgestellter Präsident nicht mehr wie bisher die Rolle eines “Hüters der Verfassung” erfüllen kann, wird diese Aufgabe niemand anderem zugewiesen.

Möglicher neuer Gesetzgebungsprozess nach dem Verfassungsreferendum

Das wichtigste Recht in einer Demokratie ist das Budgetrecht. Wer über das Geld entscheidet, hat größten Einfluss auf die politischen Möglichkeiten eines Staates. Dieses Budgetrecht wird weiterhin beim Parlament liegen, jedoch liegt das Vorschlagsrecht beim Präsidenten. Er legt also fest, was die parlamentarische Verhandlungsbasis ist.

Damit sind wir bei der Entscheidungsfindung angekommen – beziehungsweise der Möglichkeiten, eine Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu verhindern. Das Vorschlagsrecht für Gesetze wird in der neuen Verfassung bei Parlament und Ministerrat liegen. Will der Präsident ein Gesetz einbringen, müsste er dies indirekt tun. Da die Minister vollständig von ihm abhängig wären, dürfte das kaum ein Hindernis darstellen. Im Übrigen müsste er sich diese Mühe gar nicht machen, da er einfach per Dekret regieren, Papiere mit Gesetzeskraft also nach Gutdünken aus dem Arm schütteln könnte, welche das Parlament im Nachhinein mit relativer Mehrheit überstimmen können soll.

Ferner soll der türkische Präsident zukünftig weiterhin die Möglichkeit haben, einen aufschiebenden Einspruch, ein sogenanntes suspensives Veto, gegen Gesetze einzulegen, wodurch es zu einer neuerlichen Abstimmung im Parlament kommen muss. Der Unterschied ist, das dieses vom Parlament jetzt nur noch mit einer absoluten, nicht mehr mit einer relativen Mehrheit überworfen werden kann.

Verbindet man diese Veränderungen jetzt noch damit, dass Parlament und Präsident zukünftig gleichzeitig auf fünf Jahre gewählt werden und somit davon auszugehen ist, dass die Parlamentsmehrheit im Regelfall von der Partei des Präsidenten getragen oder gar gestellt werden wird, ist damit zu rechnen, dass dessen politische Richtung dauerhaft alle Entscheidungen prägt, während der Rest der Bevölkerung seine Vertretung verliert.

Und sollte das Parlament doch einmal nicht machen, was der Präsident will, soll er es nach dem Entwurf der neuen Verfassung auflösen können.

Wer entscheidet nach dem Verfassungsreferendum?

Die Macht über den Staat soll in der Hand eines Mannes konzentriert werden, der nicht kontrolliert werden kann und den niemand seiner Macht entheben kann. Es ist die Hand eines Mannes, von dem alle anderen Machtinhaber – seien dies Minister oder das Parlament – abhängig sein würden und der alle Entscheidungen allein treffen und alle unliebsamen Entscheidungen allein blockieren kann.

Ganz ehrlich: Eine solche unbeschränkte Macht würde ich nicht einmal mir selbst geben, denn wer würde mich davon abhalten, die Suppe zu versalzen. Selbst dem mir wohlgesinntesten Menschen würde ich sie andererseits nicht geben, denn diese Gesinnung kann sich ja ändern.

Das türkische Volk hat bis heute also die Wahl. Sie dürfen Ja oder Nein zur bedingungslosen Abhängigkeit von Erdogan sagen. Wobei dies für einen vernünftigen Menschen kaum eine Wahl darstellen dürfte. Egal wie sie sich entscheiden, wird gelten:

Die Suppe, die sie sich einbrocken, werden sie auch auslöffeln müssen.

Verwendetes Bild: © 2017 kamila211 / pixabay.com.

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