Das Gefühl nicht zu genügen, quält viele von uns. Der überall praktizierte Jahresrückblick birgt da die Gefahr und den Schrecken, dass sich das eigene geringe Selbstwertgefühl bestätigt.
Eigentlich ist es ja gut, uns Ziele zu setzen und im Auge zu behalten, ob wir uns diesen Zielen auch nähern. Dass wir unser Leben in Jahresabschnitte einteilen erleichtert das ungemein: An Neujahr fassen wir unsere Pläne fürs nächste Jahr und an Silvester könne wir sehen, was daraus wurde: nichts! Nicht immer, aber natürlich oft, und wenn doch mal was klappt, dann nicht so gut, wie wir hofften. Kurz: Wir waren nicht genug.
Dabei lassen wir alles außen vor, was unser Tun, unseren Fortschritt und unsere Erfolge beeinflusst. Mal ehrlich: Wessen Pläne für 2020 sind denn aufgegangen? Wer musste sie nicht anpassen? Und dass uns die Realität in unsere Vorstellungen pfuscht, ist ja wörtlich schon sprichwörtlich geworden:
1. dauert es länger und
2. als man denkt.
Lasst uns also mal durchatmen und gedanklich die richtige Grundlage für unsere Selbstbewertung schaffen. Habt ihr eine Tasse Tee, ja? Also:
Nicht auf eigene Fehler lauern
Dass wir immer das Gefühl haben, nicht zu genügen, und schon mit der Erwartung, dass das auch dieses Mal der Fall sein wird, wenn wir an unseren Jahresrückblick gehen, ist schon eine schlechte Voraussetzung. An unserem mangelnden Selbstwertgefühl werden wir natürlich auf die Schnelle nichts ändern können [dazu ist auch ein gesonderter Artikel notwenig]. Unsere Erwartung dagegen dürfen wir getrost beiseite legen, denn erst definieren wir, wie wir zu einer realistischen Bewertung unseres Jahres kommen.
Eine realistische Bewertung setzt voraus, dass wir alle Dinge auf unserem Plan und auch diejenigen, die nicht darauf stehen, in Relation betrachten zu den tatsächlich Entwicklungen – und auch zu der Frage, wie realistisch der Plan selbst war [wie du realistischen Pläne für kommendes Jahr fasst, erklären wir bald]. Kurz: Wir betrachten also nicht uns einfach im Verhältnis zu einem abstrakten Plan, sondern konzentrieren uns zuerst darauf, was wir tatsächlich geschafft haben. Mache also eine Liste:
- Welche unerwarteten Entwicklungen sind dieses Jahr eingetreten?
- Waren das zusätzliche Hindernisse oder Erleichterungen?
- Was habe ich in Bezug auf diese Entwicklungen alles erreicht?
Selbstwertgefühl wächst aus Fokus aufs Positive
Hier halten wir mal kurz inne. Du siehst einerseits schon, dass es vorrangig ist, die eingetretenen Bedingungen zu betrachten und nicht einen vorher gefassten Plan. Du siehst auch, dass wir unseren Fokus dabei auf das richten, was erreicht wurde, nicht auf das, was nicht erreicht wurde.
Folgende Beispiele zeigen, warum das wichtig ist: Ein Hotel kann natürlich die Bettenauslastung planen, wie es will. Wenn dann Corona kommt, wird Corona zum Maßstab, nicht der Plan. Und wenn du wegen Corona 10 ungeplante Masken genäht hast, musst du dich nicht ärgern, dass es nicht 11 waren, denn du hast ja 10 mehr gemacht als geplant!
Weiter mit unserer Liste (erst nehmen wir mal den Punkt aus dem zweiten Beispiel mit auf):
- Welche ursprünglich nicht geplanten Projekte und Vorhaben hast du gestartet?
- Was hast du bei diesen erreicht?
Als Nächstes fassen wir zusammen, wie viele Ressourcen uns für die Ziele in unserer Jahresplanung wegen dieser anderes gearteten Entwicklung ungeplant nicht zur Verfügung standen. Das beziehen wir dann ein, wenn wir uns ansehen, wie weit wir mit diesen Zielen trotzdem gekommen sind.
We are Work in Progress
Außerdem dürfen wir nicht vergessen zu hinterfragen, wie realistisch unsere Einschätzung bei der Planung war. Oftmals treten ja unerwartete Schwierigkeiten auf und müssen Umwege in Kauf genommen werden, von denen wir vorher noch nichts wissen konnten.
Nun gehen wir also an unsere Liste von Vorhaben und fragen uns bei jedem Punkt:
- Welche Meilensteine habe ich auf diesem Pfad erreicht?
- Welche eventuellen Rückschläge habe ich gemeistert?
- Welche persönlichen Fortschritte habe ich dabei gemacht? Was habe ich gelernt?
Auf diese Weise haben wir eine Liste von Erfolgen, Erkenntnissen, überwundenen Hürden zusammengestellt. All diese Dinge sind positiv gewesen in unserem vergangenen Jahr. Es zählen ausschließlich diese Fortschritte, die wir gemacht haben, denn wir sind immer gerade dabei, uns weiterzuentwickeln vom letzten Zustand zu unserem heutigen Ich zum nächsten Schritt.
‘Ja, aber’ zerstört unser Selbstwertgefühl
Hörst du es dich schon sagen? ‘Ja, aber …’ gefolgt von riesigen Einwänden? Es gibt drei typische Stolpersteine, die wir uns in den Weg legen und die vernichtend für unser Selbstwertgefühl sind. Sie möchte ich zum Schluss noch ansprechen, damit uns diese Einwände nicht unsere tatsächlichen Erfolge zerreden:
Erstens wurden uns vielleicht unrealistische Erwartungen eingeimpft – oder sie werden immer noch an uns herangetragen. Manche Eltern sind ganz groß darin. Aber ein gutes Ziel muss sich erst mal daran messen, ob es überhaupt realisierbar ist. Manche solche Pläne – egal, ob wir sie selbst gefasst oder aufgetragen bekommen haben – sind von vornherein Makulatur.
Zweitens haben wir die schlimme Neigung, uns mit anderen zu vergleichen. Jemand anderes hat vielleicht mehr Erfolge. Und schon laufen wir wieder Gefahr, unsere eigenen Erfolge abzuwerten. Dabei ignorieren wir jedoch sträflich, dass jeder Mensch andere Voraussetzungen und andere Begleitumstände hat. Nicht zwei Menschen sind gleich. Nicht zwei Menschen hatten dasselbe Jahr.
Dass jemand anderes mehr erreicht hat – sofern wir da nicht sowieso dem Trugbild der heilen Instagram-Welt aufsitzen – mag sein, sagt aber absolut überhaupt nichts über uns.
Drittens ist es nicht unsere Schuld. Auch von dieser Fehlleistung lassen wir uns gerne ins Bockshorn jagen: Wahrscheinlich ist sie ebenfalls Frucht einer giftigen, unfairen Erziehung, diese Annahme, dass immer wir schuld sind, egal wie wahnwitzig wir uns argumentativ verrenken müssten, um zu belegen, dass letztlich jede zusätzlich eingetretene Entwicklung dieses Jahres und jedes Hindernis eine geringere Rolle gespielt habe, wären wir nur endlich der erste absolut perfekte Mensch – denn so einen gab es noch nie.
Fazit zum Fazit
Wusstest du schon, dass dieser Artikel eigentlich viel kürzer und viel schneller fertig hätte sein sollen? So what? Und nun die Schlusspointe:
Du bist gut genug.